Milton Diamond, Jahrgang 1934, ist Professor für Anatomie und reproduktive Biologie an der University of Hawaii, wo er das Pacific Center for Sex and Society der John A. Burns School of Medicine leitet. Als Biologe beschaftigte sich Diamond zunächst mit dem pranatalen Linfluss von Sexualhormonen auf die Geschlechtsdifferenzierung von Meerschweinchen. Seine Erkenntnisse aus Tierexperimenten ubertrug er auf die menschliche Geschlechtsentwicklung und widmete sich gemeinsam mit Ärtzen über mehrere Jahrzehnte der Erforschung und Behandlung von Trans- und Intersexualitat. Diamond gilt als einer der profiliertesten Kritiker der sozialkonstruktivistischen Geschlechtertheorie John Moneys. Weltweit bekannt wurde er durch seine Veröffentlichungen zum so genannten John/Joan-Fall, bei dem auf Anraten Moneys ein Junge nach einem Unfall bei dessen Beschneidung als Mädchen großgezogen wurde. Anfang 2008 besuchte Diamond das 2.Interdisziplinäre Forum für Intersexualität in Hamburg, wo Hertha Richter-Appelt mit ibm sprach.a,b

Die Redaktion

 

Richter-Appelt: Im Laufe Ihrer langen akademischen Karriere haben Sie sich mit vielen unterschiedlichen Aspekten der menschlichen Sexualität auseinandergesetzt, besonders mit Trans- und Intersexualität. Begonnen haben Sie aber ganz anders, nämlich mit endokrinologischen Untersuchungen an Meerschweinchen. Wie kam es dazu?

Diamond: Zunächst muss ich sagen, dass ich die Schule gehasst habe. Immer wieder bin ich abgehauen und habe geschwänzt. Eines Tages horte ich aber von einer besonderen Schule, die eine Aufnahmeprüfung veranstaltete: die Bronx Highschool of Science. Ich nahm teil, bestand den Test und wechselte dorthin – das hat mein Leben verändert Von nun an liebte ich die Schule. Ich wollte unbedingt irgendetwas Naturwissenschaftliches lernen und schrieb mich für Physik ein. Aber ich besuchte auch Kurse in Biologie und machte meinen Abschluss schließlich in Biophysik.

Was geschah dann?

Zu dieser Zeit wurden alle für den Koreakrieg eingezogen. Ich sagte mir, wenn ich schon zur Armee muss, dann gehe ich als Offizier. Für die Offiziersausbildung war ich aber zu Jung, sodass ich noch Zeit hatte, Kurse in Verhaltenswissenschaften zu besuchen. Ich studierte bei William Etkin, einem Behavioristen, der endokrinologische Studien durchführte. Und davon ist vieles hängen geblieben. Ab meinem 22. Lebensjahr war ich dann für drei Jahre als Offizier in Japan. Noch von dort aus versuchte ich, einen Studienplatz zu bekommen, was ohne E-Mails ziemlich mühsam war.

Schließlich landete ich bei dem Endokrinologen William C.Young in Kansas. Als Student macht man ja, was von einem verlangt wird, und so machte ich entwicklungsendokrinologische Studien an Meerschweinchen. Damals wäre niemand auf die Idee gekommen, Menschen zu untersuchen. Wir analysierten die Wirkungen der Sexualsteroide Östrogen und Testosteron auf die Sexualentwicklung. Meerschweinchen waren dazu besonders geeignet, weil sie eine lange Schwangerschaft von 70 Tagen haben, im Unterschied zu Ratten und Mäusen mit 21 und 25 Tagen. Ich musste die Tiere injizieren und ihr Verhalten beobachten, vor allem ihr sexuelles Verhalten. Auf diese Weise ließen sich differenzierte Beobachtungen anstellen. Wir wollten sehen, ob sich das Verhalten durch Sexualhormone manipulieren lässt, und gaben daher Weibchen während der Schwangerschaft entweder Östrogene oder Testosteron. Zunächst sollte ich die Wirkung von Östrogenen untersuchen, und das Ergebnis stand schnell fest: Es kam zu Fehlgeburten. Das war nicht sehr befriedigend.

Dann untersuchten wir die Wirkung von Testosteron. Bei geringer Dosis stellten wir fest, dass die Weibchen bis zur Pubertät unauffällig waren, dann jedoch männliches Sexualverhalten zeigten. Gaben wir hohe Dosen, waren schon die neugeborenen Weibchen virilisiert, hatten eine vergrößerte Klitoris, die manchmal wie ein Penis aussah. Als erwachsene Tiere penetrierten sie mit diesem Penis dann die Vagina eines Weibchens. Wichtig ist, dass wir bei den Meerschweinchen nur die Mütter behandelt haben, nicht aber die Jungtiere direkt. Denn im Unterschied zu Mäusen und Ratten liegt die kritische Phase der Geschlechtsdifferenzierung bei Meerschweinchen in der Schwangerschaft. Der entscheidende und auch heute noch gültige Grundgedanke lautet, dass das Verhalten pränatal organisiert wird. aber erst postnatal aktiviert. Meinen Medizinstudenten nenne ich als Beispiel immer die Menstruation: Sie ist pränatal organisiert, tritt aber erst während der Pubertät auf, also Jahre später. Unsere Ergebnisse wurden 1959 in einem Aufsatz veröffentlicht, der ziemlich berühmt wurde.1

Etwa zu dieser Zeit begann man in den USA, Frauen gegen Fehlgeburten mit DES (Diethylstilbestrol) zu behandeln...

...eine schreckliche Geschichte! In den 1950er-Jahren entdeckte man in England DES und glaubte, ein Mittel gegen Fehlgeburten gefunden zu haben. Es zeigte sich aber, dass DES nicht gegen Fehlgeburten wirkte. sehr wohl aber auf die Kinder. Ich habe Kontakt mit einer Gruppe von Menschen, die sich „The DES Sons“ nennen. Wir glauben, dass es sich hier um feminisierte Männer handelt, sehr feminisierte Männer. Die Belege dafür sind nur anekdotisch und es gibt auch Gegenstimmen, aber ich denke, DES-Söhne zeigen feminisierte Züge. Einige sind transsexuell und haben das Geschlecht gewechselt.

Wie geht es den DES-Töchtern?

Bei ihnen ist das Verhalten unauffällig, aber viele von ihnen entwickeln unterschiedliche Formen von Krebs.

Mit ihren Meerschweinchen haben Sie, wenn man so will, etwas ganz Ähnliches angestellt.

Wir haben uns, wie übrigens andere Forscher auch, mit dem Einfluss von Sexualhormonen während der Schwangerschaft beschäftigt. Wir alle stellten uns dabei die gleiche interessante Frage: Gibt es kritische Phasen in der Embryonal- und Neonatalentwicklung, vor allem was die hypothalamische Struktur angeht, die besonders wichtig für die Geschlechtsdifferenzierung sind? Diese Phasen sind nun bei Meerschweinchen und bei Ratten unterschiedlich: Bei Meerschweinchen finden wir sie während der Embryonalzeit, bei Ratten erst nach der Geburt. Damals wurden auch Experimente mit Kastrationen vor und nach der Geburt durchgeführt.

Wann begannen Sie, sich mit menschlicher Sexualität zu beschäftigen?

1962 habe ich mein Studium abgeschlossen und bin nach Kentucky gegangen. Dorthin nahm ich die Meerschweinchen mit und arbeitete weiter mit ihnen.2 Jemand erfuhr damals von meinen Experimenten und schickte mir die erste Patientin mit Intersexualitat.

Das ist überraschend, schließlich arbeiteten Sie mit Tieren.

Niemand hat sich damals mit Sexualität beschäftigt, besonders in den Kliniken nicht. Daher wusste man einfach nicht, was man mit der Patientin machen sollte. Und so schickte man sie zu mir, zu diesem verrückten Typen, der sich mit Sex auskennt und dessen Labor direkt gegenüber vom Uniklinikum lag. Aus heutiger Sicht hatte die Frau AIS. Damals unterschied man noch nicht zwischen kompletter und partieller AIS, sondern sprach von „testikulärer Feminisierung“.

Und man schickte mir noch einen anderen interessanten Fall mit AGS. Er lebte als Mann, damals gab es noch keine Hormonbehandlung. Das waren die ersten Menschen mit diesen Problemen, die ich gesehen habe, aber ich setzte erst einmal meine Forschung an Tieren fort. Und dann kam der Aufsatz von Money.

Im Jahr 1955 veröffentlichte John Money mit seinen Kollegen seinen berühmten Artikel zur Behandlung von Personen mit Intersexualität.3

Er schrieb einen Artikel, in dem in etwa steht, dass menschliches Verhalten beeinflusst werden kann, indem man ein Kind entweder in einen blauen Raum steckt, dann wird es ein Junge, oder in einen rosa Raum, dann wird es ein Mädchen – also seine Theorie der sozialen Konstruktion von Geschlecht. Aber nach meiner Erfahrung mit Tieren stimmte das so nicht.

Haben Sie Money damals getroffen oder zunächst nur von ihm gelesen?

Ich hatte von ihm gelesen und schrieb ihm als junger Wissenschaftler, dass ich anderer Meinung bin. Aber das kümmerte ihn wenig. 1965 schrieb ich dann einen kritischen Artikel über seine Theorie.4 Ich ging davon aus, dass sich meine Erkenntnisse aus den Tierexperimenten auf Menschen übertragen lassen müssten. Im selben Jahr traf ich Money auch zum ersten Mal bei einem Meeting in Berkeley, zusammen mit Masters und Johnson, Frank Beach und anderen.

Sie haben damals auch andere Fragestellungen verfolgt.

Ich war immer mit zwölf Sachen gleichzeitig beschäftigt. Hawaii war beispielsweise der erste Staat, in dem Abtreibung legalisiert wurde, und wir haben intensiv auf diesem Gebiet geforscht. Ich denke immer noch, dass es sich um die beste Forschung zu dem Thema handelt. Hawaii ist ein kleiner Staat, sodass sich bestimmte Fragen besonders gut untersuchen lassen. Wir haben jede Frau interviewt, die in die Klinik kam und entweder eine Abtreibung wollte oder ein Kind zur Welt brachte. Das war keine Stichprobe, sondern eine Totalerhebung. Natürlich habe ich nicht alle Interviews selbst geführt, aber wirklich alle Frauen wurden befragt und wir veröffentlichten die Daten 1972.5

Zu selben Zeit und auch später habe ich viel zum Sexualverhalten verschiedener Tierarten geforscht und publiziert: Ratten, Mäuse, Fische, Vogel, Affen etc. Um menschliche Sexualität kümmerte ich mich nicht so sehr. Erst als die Arbeiten von Masters und Johnson erschienen, habe ich ernsthaft darüber nachgedacht, auch an Menschen zu forschen – diese Möglichkeit eröffnete sich eigentlich erst mit den beiden. Anders als Masters war ich aber kein Arzt. Also begann ich, Lebensgeschichten zu sammeln, geschriebene Berichte. Noch immer wollte ich Material gegen Moneys Ideen zusammentragen. Ich sah aber keine Patienten, sondern las Berichte.

Nun sind wir imJahr 1972. Money hatte seinen berühmten Aufsatz schon 1955 geschrieben. Haben Sie immer verfolgt, was er tat?

Ja, natürlich habe ich das verfolgt. Und dann kamen die berühmten Zwillinge.c Money wollte seine Hypothese, dass Geschlecht anerzogen werden kann, immer an einem Zwillingspaar beweisen. Er stellte den Fall bei verschiedenen wissenschaftlichen Veranstaltungen vor und publizierte ihn gemeinsam mit Anke Ehrhardt im Jahr 1972 als Buch.6

Wie ging es dann weiter?

Ich sammelte weiter Berichte, 1979 plante die BBC eine Sendung, in der der Psychiater von David interviewt wurde. Und der sagte, David, der damals 13 oder 14 Jahre alt war, verhalte sich keineswegs wie ein Mädchen. Auch Money hatte ein Interview zugesagt, sagte aber wieder ab, nachdem man ihn mit der Entwicklung von David konfrontierte. Also rief die BBC mich an, schließlich musste die Sendezeit gefüllt werden. Und so trafen wir uns irgendwo zwischen London und Hawaii, und damit die Zuschauer glaubten, wir seien auf Hawaii, baute man eine Kulisse auf – etwas verrückt.

Aber zu dieser Zeit kannten Sie David noch nicht?

Nein, ich hatte die Frage nur theoretisch diskutiert, mit meinem Wissen aus der Tierforschung. Später versuchte Ich, jemanden zu finden, der ihn kannte oder etwas über ihn wusste. Und tatsächlich fand ich seinen Endokrinologen, David bekam ja die ganze Zeit Östrogene. Mit ihm nahm ich Kontakt auf und er sagte mir: „Stopp, suchen sie nicht weiter. Reden Sie mit niemandem über diesen Fall und lassen Sie die ganze Geschichte auf sich beruhen.“ Ich wollte aber mehr wissen und stieß schließlich auf Davids Psychiater. Als Ich ihn anrief, war sein erster Satz: „Ich war gespannt, wie lange Sie brauchen würden, um mich ausfindig zu machen.“

Offenbar nahm man die Schweigepflicht damals noch nicht sehr ernst. Heute würde kein Psychiater so ohne weiteres über einen Patienten Auskunft geben.

Das mag sein. Aber er wusste, dass Moneys Experiment scheitern würde. Wir unterhielten uns lange und wurden später gute Freunde. Aber er hatte Angst um seinen guten Ruf und seinen Job, weil er anderer Meinung war als Money. Ich hatte da weniger Sorgen, denn ich war überzeugt, dass ich Recht hatte und David sich nie wie ein Mädchen fühlen wurde. Das publizierte ich erneut im Jahr 1982.7 Erst Jahre später fragte der Psychiater dann David. ob er mich treffen wolle – und er hat zugesagt. Zunächst versuchte ich noch, Money zu kontaktieren, aber der nahm mich nicht ernst und so reiste ich 1995 nach Kanada, um David zu treffen. Unser Gespräch war sehr gut und David war erstaunt darüber, wie berühmt er war. Er hatte nie erfahren, dass jemand über ihn schreibt.

Auch das ist heute anders: Fallberichte dürfen nur nach Einwilligung der Betroffenen veröffentlich werden.

Ja. Und ich erzählte ihm, dass seine vermeintliche Erfolgsgeschichte die Grundlage dafür war, vielen Kindern ein anderes Geschlecht zuzuweisen. Darüber staunte er noch mehr und er sagte: „Ich habe mich nie wie ein Mädchen gefühlt.” Zu diesem Zeitpunkt muss er 30 Jahre alt gewesen sein, schon seit seinem 14. Lebensjahr lebte er aber wieder als Mann. Er hatte damals seinen Eltern mit Suizid gedroht, falls man ihm das nicht gestatten würde. Als ich ihm die Hintergründe seiner Geschichte erzählte, wurde er sehr böse. Aber er wollte auch nicht aus der Anonymität heraustreten. um seine adoptierten Kinder nicht zu belasten.

1997 schrieben wir dann einen Aufsatz,8 der auf riesiges Interesse stieß: Viele Zeitungen und Zeitschriften berichteten darüber. Und natürlich wollte man auch Money interviewen, aber der weigerte sich. David wollte Money damals verklagen, aber sein Fall war in den USA bereits verjährt. Immerhin schrieb Money jetzt nicht mehr über ihn – er schrieb andere Dinge und versuchte, seine Theorie zu rechtfertigen. Nach der Veröffentlichung unseres Aufsatzes 1997 beschloss ich dann, mich auch all den anderen Fällen zu widmen, die ich über die Jahre zusammengetragen hatte, und einen Aufsatz über die Behandlung von Menschen mit Intersexualität zu publizieren.9

Wo haben Sie die anderen Fälle gesehen? In der Klinik?

Je nachdem. Einige schrieben mir und fragten, ob sie mit Ihre Geschichte erzählen können. Ich bin ja kein Arzt und habe keine klinische Praxis, aber sie riefen mich an oder schrieben mir und kamen vorbei. Wenn sie klinische Fragen hatten, schickte ich sie zu meiner Kollegin, die Ärztin ist. Ich machte die Forschung und sie die Behandlungen. Andere traf ich auf meinen Reisen. Ich war in Israel, um eine Gruppe von ungefähr 30 Palästinensern mit 17beta HSD zu untersuchen, die Leiterin des Maternal and Health Centers hatte mich eingeladen. Einer der Ärzte hatte selber 17beta HSD und kannte diese Menschen daher ziemlich gut. Je nachdem, wie alt sie waren, lebten sie entweder als Jungen oder Mädchen. Sie wollten als Männer leben, aber in dieser Kultur ist es sehr schwierig für ein Mädchen, als Junge zu leben. Ich würde sie, wenn die Diagnose bekannt ist, von Anfang an als Jungen erziehen. Aber dort gab es ja keine Behandlungsmöglichkeiten.

Das heißt, dass Sie schon viele Intersexuelle gesehen hatten, als sie David zum ersten Mal trafen?

Ja, aber eigentlich nur aus Neugier. Wenn sie mich sehen wollten, war ich für sie da. Ich habe sie nicht behandelt und habe auch nie Geld genommen für diese Gespräche – ich habe einfach sehr viel dabei gelernt. Heute denke ich, das war ein guter Weg, so bin ich dort gelandet, wo ich heute bin. Leider habe ich dabei aber nie eine systematische Studie durchgeführt, oder psychologische Tests. Das würde ich heute anders machen.

Wie ging es dann mit David weiter?

Nachdem ich die Geschichte von David veröffentlicht hatte, meldeten sich viele Menschen telefonisch und später per E-Mail bei mir und berichteten von ähnlichen Erlebnissen. Darunter waren Intersexuelle aber auch Transsexuelle, die sagten, David habe das erlebt, was Frau-zu-Mann-Transsexuelle erleben: Er wurde als Mädchen erzogen, obwohl er sich selbst immer als Junge gefühlt hatte. David habe ich noch einige Male getroffen. Aber er lebte ja in Kanada und ich in Hawaii, sodass wir meist auf anderem Wege kommunizierten.

Nachdem Sie 1997 Ihren Aufsatz veröffentlicht hatten, begann in den USA die öffentliche Diskussion über die Behandlung von Intersexuellen.

Schon 1993 wurde in den USA die Intersex Society of North America (ISNA) gegründet. Aber das waren damals nur fünf oder sechs Leute die niemand kannte – es gab ja noch kein Internet. Nach meinem Aufsatz wurde ich dann von der American Academy of Pediatrics zu einem Vortrag eingeladen. Zuerst war ich gekränkt, weil sie mir nur eine halbe Stunde Zeit gaben, aber als ich hörte, dass die anderen nur je fünf Minuten zur Verfügung hatten, war ich wieder beruhigt.

Der Vortrag fand 1998 statt10 und ich wollte den Kinderärzten nun also erzählen, dass das, was sie 40Jahre lang mit Intersexuellen gemacht hatten, falsch war. Ich nahm meine Frau Conny mit, zum Schutz, falls jemand mit Tomaten nach mir werfen würde. Vor der Tür des Konferenzraumes stand die Vorsitzende der ISNA Cheryl Chase und protestierte, weil die Ärzte nicht mit ihr reden wollten. Also habe ich sie hereingebeten und vorgestellt als jemanden, der sich mit dem Thema auskennt. Als ich mit meiner Rede fertig war, wares totenstill im Saal, niemand sagte etwas. Und dann standen sie plötzlich auf und fingen an zu klatschen. Das war sehr bewegend. Die haben zwar nicht alles akzeptiert, aber sie haben genau zugehört.

Das war der größte Erfolg, den Sie jemals hatten.

Ja. Daraufhin organisierte die Pädiatrische Akademie ein Meeting in Texas, um das Thema weiter zu diskutieren und zu besprechen, wie man die Behandlung verändern sollte. Allerdings wurde ich nicht zu diesem Treffen eingeladen.

Sie waren ja auch nicht zur Consensus-Konferenz 2005 in Chicago eingeladen. Aber lassen Sie uns noch einmal zu David zurückkommen. Wie ist John Colapinto auf ihn gestoßen, der später über ihn schrieb?

Colapinto erkundigte sich bei mir nach David, der ja immer noch anonym war. Nachdem ich David gefragt hatte, stellte ich den Kontakt her. Colapinto ist auch Kanadier, lebte damals aber in den USA und schrieb für die Zeitschrift „Rolling Stone“. Er interviewte David und schrieb dann das Buch „Der Junge, der als Mädchen aufwuchs“11, das sehr erfolgreich wurde. Ich weiß nicht genau, was die Kinderärzte zu dem Buch sagten, aber meine Freunde mochten es und Moneys Freunde mochten es nicht. Money schrieb in einem australischen Journal, er sei missverstanden worden, und irgendwo sagte er sogar, die Eltern hätten David nicht richtig erzogen oder so etwas Ähnliches.

Sie haben eine Menge Erfahrung mit Menschen mit Intersexualität und Transsexualität. Wenn Sie das zusammenfassen, was sind die wichtigsten Aspekte bei der Entwicklung der Geschlechtsidentität?

Unsere Entwicklung unterliegt, wie ich 2006 geschrieben habe12, einigen grundlegenden Einflüssen –wir sind nicht neutral. Auf Basis dieser Einflüsse interpretieren wir die Umwelt auf je unterschiedliche Art und Weise. Grundlegend ist die Biologie, die Umwelt kommt danach. Und ich glaube, dass Nervensystem und Gehirn eine wichtige Rolle spielen. Intersexuelle zeigen eine viel größere Variabilität hinsichtlich dessen, was wir männlich oder weiblich nennen. Ein ähnlicher Einfluss zeigt sich auch bei Transsexuellen. Wenn ein drei oder vier Jahre altes Kind sagt: „Ich weiß, dass ich kein Junge bin“, dann sagt es nicht: „Ich bin ein Mädchen“. Es hat ein negatives Wissen, weil es wie ein Junge behandelt wird und sagt: „Das bin ich nicht“. Und ich denke, das gibt es in allen Kulturen: Nicht nur in den USA und Deutschland werden diese Kinder falsch behandelt. In einer niederländischen Studie13 hat mehr als 1% der Befragten erklärt, sie lebten zwar als Männer, würden aber lieber als Frauen leben. Irgendetwas im Inneren sagt: „Ich bin anders“.

Sie haben die Studie aus Holland erwähnt. Peggy Cohen-Kettenis und ihr Team behandeln seit einiger Zeit Jugendliche mit einer Störung der Geschlechtsidentität mit pubertätshemmenden Medikamenten. Was halten Sie davon?

Wie Sie wissen, wird das in England nicht gemacht. Dort ist man der Auffassung, ein Jugendlicher müsse erst die Pubertät durchlaufen, um herauszufinden, was er oder sie später sein will, Mann oder Frau. Diese armen Kinder! Warum muss ein Mädchen, das das Gefühl hat, ein Junge zu sein, erst eine Menstruation erleben? Oder ein Junge, der eine Frau sein möchte, Bartwuchs bekommen?

Wie beurteilen Sie die Nebenwirkungen? Es gibt eine heftige Diskussion darüber, dass bei diesen Kindern eine stark erhöhte Osteoporoserisiko besteht und auch andere unerwünschte Wirkungen auftreten können.

Nun, wenn man ein Kind kastriert und keine Hormonsubstitution gibt, bekommt es auf jeden Fall Osteoporose. Schließlich nimmt man ja die Hormone weg, die für eine gute Knochenentwicklung nötig sind. Bei geschlechtsangleichenden Operationen hat es aber niemanden gestört, dass lebenslang Hormone gegeben werden müssen. Warum sorgt man sich also gerade jetzt? Ich meine, man hilft den Kindern am besten, wenn man sie davor bewahrt, in die falsche Pubertät zu kommen.

Gibt es noch etwas, das Sie uns abschließend sagen wollen?

Das wichtigste Sexualorgan sitzt zwischen den Ohren und nicht zwischen den Beinen.

Vielen Dank, Milton Diamond.

REFERENCES

1 Phoenix CH., Goy R, Gerall AA, Young WC. Organizing action of prenatally administered testosterone propionate on the tissues mediating mating behavior in the female guinea pig. Endocrin 1959; 65: 369.382

2 Für Arbeiten aus dieser Zeit vgl. u.a. Diamond M. Androgen-induced masculinization in the ovariectomized and hysterectomized guinea pig. Anatom Rec 1967: 157: 47-52; Diamond M. Genetic-endocrine interaction and human psychosexuality. In: Diamond M (Hrsg), Perspectives in Reproduction and Sexual Behavior, Bloomington: Indiana University Press, 1968: 417-443; Diamond M, Rust N, Westphal U. High-affinity binding of progesterone, testosterone and cortisol in normal and androgen treated guinea pigs during various reproductive stages: relationship to masculinization. Endocrin 1969: 84:1143-1151

3 Money J, Hampson JG, Hampson JL. Hermaphroditism: recommendations concerning assignment of sex, change of sex, and psychological management. Bull Johns Hopkins Hospital 1955; 97:284-300

4 Diamond M. A critical evaluation of the ontogeny of human sexual behavior. Quart Rev Biol 1965; 40:147-175

5 Smith RG, Steinhoff PG, Diamond M, Brown N. Abortion in Hawaii: the first 124days. Am J Pub Health 1971; 61: 530-542; vgl. auch Steinhoff PG, Smith RG, Diamond M. The characteristics and motivations of women receiving abortions. Sociological Symposium No.8, 1972 sowie Steinhoff PG, Diamond M. Abortion Politics: The Hawaii Experience. Honolulu: The University Press of Hawaii, 1977

6 Money J, Ehrhardt A. Man & woman, boy & girl: the differentiation and dimorphism of gender identity from conception to maturity. Baltimore; Johns Hopkins University Press, 1972

7 Diamond M. Sexual identity, monozygotic twins reared in discordant sex rules and a BBC follow-up. Arch Sex Behav 1982: 11: 181-186

8 Diamond M, Sigmundson HK. Sex reassignment at birth: a long term review and clinical implications. Arch Pediatr Adolesc Med 1997; 151: 298-304

9 Diamond M, Sigmundson HK. Management of intersexuality. Guidelines for dealing with persons with ambiguous genitalia. Arch Pediatr Adolesc Med 1997; 151: 1046-1050; vgl. auch Diamond M. Intersexuality: Recommendations for management. Arch Sex Behav 1998; 27: 634-641

10 Vgl. Diamond M. Pediatric management of ambiguous and traumatized genitalia. J Urol 1999; 162: 1021-1028

11 Colapinto J. Der Junge,der als Mädchen aufwuchs. Düsseldorf u.a.: Walter, 2000

12 Diamond M. Biased-Interaction Theory of psychosexual development: “How does one know if one is male or female?” Sex Roles 2006; 55: 589-600

13 De Vries A, Doroleijers T, Cohen-Kettenis PT. Disorders of sex development and gender identity outcome in adolescence and adulthood: understanding gender identity development and its clinical implications. Pediatr Endocrinol 2007: 4: 343-351

END NOTES

a Die Tonbandaufzeichnung des Interviews transkribierte Svenja Mix, Flensburg. Hertha Richter-Appelt übersetzte das Gespräch aus dem Englischen.

b Eine ausführliche Bibliographie Milton Diamonds findet sich als Online-Dokument unter http://www.hawaii.edu/PCSS/bibliography/.

c Die Rede ist von Bruce und Brian Reimer, geboren 1965. Nach einem Unfall bei der Beschneidung im Alter von knapp sechs Monaten wurde Bruce auf Anraten Moneys als Mädchen erzogen. Seine Hoden wurden entfernt, er wurde mit weiblichen Hormonen behandelt und Brenda genannt. Im Alter von 14 Jahren weigerte sich Brenda, weiter in der Mädchenrolle zu leben und nannte sich selbst fortan David. Um die Anonymität des Patienten zu gewährleisen, wurde der Fall ursprünglich als „John/Joan-Case“ bekannt.

 


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